© ISG FFM, Foto: Uwe Dettmar
XProteste gegen Notstandsgesetze
Die Bilder von Protesten und Demonstrationen nehmen einen großen Raum in der Ausstellung ein. Denn die für die Stadtbevölkerung wichtigen Themen wurden im öffentlichen Raum diskutiert und Demonstrant*innen bestimmten während des gesamten Jahrzehnts das Stadtbild mit:
Die Frankfurter*innen protestieren für die 40-Stunden-Woche und eine bessere Bezahlung, sie setzten sich ein für Rüstungskontrolle, Frieden und Abrüstung, gegen die Pläne zur Notstandsgesetzverfassung und gegen die Bildungsmisere mit ihren als verkrustet empfundenen Strukturen an Universitäten und in Schulen. Auch der Flughafenausbau war schon Gegenstand von Protesten und Bürgerinitiativen. Die Protestbewegungen kulminierten in der „68er“-Bewegung. Die „68er“ forderten einen radikalen gesellschaftlichen Umbruch, Emanzipation und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.
Angesichts dieser Vielfalt der Proteste widmet die Ausstellung diesem Bereich die gesamte Fensterfront im Dormitorium und visualisiert und erläutert die unterschiedlichen und zeitweise gemeinsam agierenden Protestgruppen sowie Protestereignisse nicht nur auf Bild- und Texttafeln, sondern auch in Vitrinen, einer Lesestation und als großformatige Bilder auf Lamellenvorhängen.
In diesem Beitrag soll der Fokus auf den Protesten gegen die Notstandsgesetze liegen – eine Protestbewegung, die eng mit den Protesten für den Frieden und der so genannten 68er Bewegung verwoben war. Die Notstandsgesetzgebung wurde in der Bundesrepublik seit 1956 diskutiert. Die Regierung wollte damit die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen wie Krieg, Aufstand oder Naturkatastrophen gewährleisten. Die Gegner verbanden mit den geplanten Grundrechtseinschränkungen jedoch die Sorge, es handele sich um einen ersten Schritt zum faschistischen Staat – nicht zuletzt aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte heraus. Der breiter werdenden Opposition gegen diese Pläne gehörten zunächst vor allem Jurist*innen und Politikwissenschaftler*innen an, es schlossen sich bald Linksliberale, Gewerkschaften und Studierende an.
Die Pläne bekamen mit der seit 1966 regierenden Großen Koalition erstmals parlamentarische Chancen auf Verwirklichung, denn nur CDU und SPD zusammen hatten die notwendige Zweidrittelmehrheit. Die ersten Gesetzesinitiativen waren 1960, 1963 und 1965 an dieser Hürde gescheitert. Mit diesen veränderten Mehrheitsverhältnissen nach 1966 wuchs auch der Protest, der auch als APO bezeichnet wurde, als „außerparlamentarische Opposition“.
Am 30. Oktober 1966 versammelten sich mehr als 24.000 Teilnehmer*innen in Frankfurt zum Kongress „Notstand der Demokratie“. Sie kamen von den Gewerkschaften, aus der Ostermarschbewegung, den Jugendverbänden und den Universitäten. In der Folge gab es immer wieder Demonstrationen.
Den Höhepunkt erreichten die Proteste im Frühjahr 1968. Nach den Osterunruhen im April, die auch durch das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April mit angeheizt worden waren, gab es eine Großkundgebung gegen die Notstandsgesetze am 1. Mai auf dem Römerberg. 15.000 Zuhörer*innen hatten sich versammelt. Der DGB organisierte die Kundgebung, getragen wurde sie aber auch von der Studentenbewegung, so war der Studentenführer Hans-Jürgen Krahl einer der Hauptredner. Weitere Demonstrationen und Sternenmärsche nach Bonn anlässlich der zweiten Lesung der Notstandsgesetzgebung im Parlament folgten. Zur Abschlusskundgebung eines Protestmarsches am 27. Mai 1968 versammelten sich etwa 12.000 Arbeiter*innen, Schüler*innen und Studierende auf dem Römerberg. Am Abend verlasen Intendant und Beschäftigte des Frankfurter Schauspiels gemeinsam auf der Bühne eine Resolution gegen die Notstandsgesetze – was zu wütenden Protesten des meist bürgerlichen Publikums führte. Ein Unistreik mit Besetzung der Universität durch die Studierenden ab dem 15. Mai war ebenfalls unter anderem vom Protest gegen die Notstandsgesetze getragen. Die Besetzung wurde am Morgen des 30. Mai geräumt. Es folgten Straßenschlachten und -barrikaden. Wieder wurde abends im Theater die normale Vorstellung unterbrochen und stattdessen diskutiert.
Trotz aller Proteste wurden die Notstandsgesetze vom Bundestag am 30. Mai 1968 verabschiedet, wenn auch in einer abgeschwächten Version. Die Notstandsgesetze ergänzen seitdem die Grundrechte und erweitern die Spielräume des Staates im Falle eines inneren oder äußeren Notstandes. Ein „Gemeinsamer Ausschuss“ als Notparlament kann im Krisenfall Bundestag und Bundesrat ersetzen, die Bundeswehr darf unter bestimmten Umständen auch im Inneren eingesetzt werden, Grundrechte wie unter anderem das Post- und Fernmeldegeheimnis sowie die Freizügigkeit und die Berufsfreiheit können eingeschränkt werden. Die Notstandsgesetze gelten bis heute, sind aber seit ihrem Bestehen noch nie angewandt worden [Siehe Tagesschau vom 11.03.2020]
Nach der Verabschiedung des Gesetzespaketes zersplitterten die Protestbewegungen relativ rasch, deren gemeinsamer Gegenstand nun fehlte und die sich in zentralen Fragen wie im Verhältnis zur Gewalt ideologisch doch uneins waren.
Tipp für weitere Forschungen:
Zu den Notstandsgesetzen und den begleitenden Protesten hat die Zeitschrift „diskus - Frankfurter Student_innenzeitschrift“ jetzt eine sehr schöne Online-Ausgabe herausgegeben. Diese Archivausgabe trägt verschiedene Texte zusammen, die in den 1960er Jahren im DISKUS veröffentlicht wurden und Teil der Debatte um die Notstandsgesetze in den 1960er Jahren waren: https://diskus.copyriot.com/archivausgabe-notstandsgesetze
Referenced project
Exhibition: Times of Upheaval: Frankfurt During the 1960s