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X»Publikumsbeschimpfung«: Theater in Frankfurt
Inszenierungen des Frankfurter Schauspielhauses und des TAT (Theater am Turm) fanden in den 1960ern deutschlandweit Beachtung.
Zu Beginn der 1960er Jahre hatten Oper und Theater in Frankfurt nur eingeschränkte Spielmöglichkeiten: die Alte Oper war zerstört und über Jahrzehnte fehlten die Mittel zum Wiederaufbau. Zwar sammelten die Frankfurter Bürger in einer 1964 gegründeten „Aktionsgemeinschaft Opernhaus“ Geld für die Wiederherstellung, doch erst 1981 konnte das Opernhaus neu eröffnen. Opern wurden daher im 1951 wiederaufgebauten Schauspielhaus aufgeführt. Dem städtischen Theater blieben damit nur der Börsensaal und eine Turnhalle in Sachsenhausen. Nach langen Diskussionen wurde im Jahr 1954 von den Stadtverordneten der Neubau eines Schauspielhauses genehmigt. (Zum Wiederaufbau des Frankfurter Schauspiels siehe unser Schlaglicht auf die 60er)
Am 14. Dezember 1963 eröffnete die neue Theaterdoppelanlage am Theaterplatz (heute: Willy-Brandt-Platz). Intendant war von 1951 bis 1968 Harry Buckwitz, der mit dem Ensemble Werke der Klassik, Klassischen Moderne und auch der Gegenwart inszenierte: Auf dem Spielplan standen Stücke von Shakespeare, Goethe, Schiller, Kleist, Zuckmayer, Beckett, Dürrenmatt, Frisch, Müller, Walser oder Brecht. Seine Inszenierungen wurden sowohl von der jüngeren Generation als auch vom eher konservativen Publikum kritisiert: Die einen fanden sie nicht progressiv und gesellschaftskritisch genug, die anderen zu modern. Haushaltskürzungen nach der kurzen Rezession 1966/67 belasteten auch den Etat des Theaters, was Buckwitz ebenfalls zermürbte. Nach seinem Weggang folgte Ulrich Erfurth, dessen Vertrag aber 1972 nicht verlängert wurde.
Politischer und gesellschaftskritischer als das Städtische Schauspielhaus war in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre das TAT. Es wurde 1953 als „Landesbühne Rhein-Main“ durch den Frankfurter Bund für Volksbildung gegründet. Der Name Theater am Turm spielte auf den Eschenheimer Turm an, denn das TAT hatte von 1963 bis 1995 seinen Sitz im ehemaligen Volksbildungsheim am Eschenheimer Tor. Heute beherbergt das Gebäude das Metropolis-Kino. Das TAT zog um ins Bockenheimer Depot.
Zunächst spielte die Landesbühne Rhein-Main/das TAT eher klassische Stücke, seichtes Boulevardtheater und Stücke in hessischer Mundart. Ab Mitte der 1960er Jahre stieg das Niveau und das TAT wandelte sich zum experimentellem, politischen Theater. Maßgeblich trugen dazu ab 1965 Intendant Felix Müller und Claus Peymann zunächst als Regisseur und später als Intendant bei. Peymann inszenierte 1966 Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“, eine viel beachtete und auch umstrittene Uraufführung, die heute in einem Youtube-Video angeschaut werden kann.
Für viele markierte das Stück des erst 23jährigen Autors Handke den Beginn eines „modernen Theaters“. Es handelte sich nicht mehr um ein klassisches Theaterstück, sondern vier unkostümierte Schauspieler sprachen das im Licht sitzende Publikum direkt an. Zur eigentlichen „Beschimpfung“ kam es erst im letzten Teil des Stückes, hier wurde das Publikum unter anderem als „Kriegstreiber“ und „Untermenschen“ betitelt. Viele Zuschauer nahmen diese neue Form der direkten Ansprache leicht amüsiert zur Kenntnis, andere genervt. Die Uraufführung endete mit langem Applaus, aber auch Buhrufen und Pfiffen. Eine weitere Aufführung ging sogar in Tumulte und Prügeleien über, wie Peymann sich 50 Jahre später in einem Gespräch auf Deutschlandfunkkultur erinnerte. Der Regisseur fand das großartig und fühlte sich wie „die Beatles oder die Rolling Stones“.
Peymann verließ 1969 das TAT, Intendant Müller ging kurze Zeit später. Das TAT blieb weiter eine Spielstätte für progressives Theater in Frankfurt, besteht heute aber nicht mehr: Nach einigen Jahren im Bockenheimer Depot musste es 2004 aus Kostengründen seinen Betrieb einstellen.
Projektbezug
Ausstellung: Bewegte Zeiten: Frankfurt in den 1960er Jahren